“Wie lange denn noch?”
Das Langzeitstillen und andere “Anomalien” des Eltern Seins aus der Sicht einer Psychologin
Ich wurde gefragt, ob ich diesen Bericht anonymisiert veröffentlichen lassen möchte. Nach ein paar Abwägungen habe ich mich dagegen entschieden. Ich stehe zu unserer Entscheidung und bisherigen Stillgeschichte. Nur wenn man seine Gedanken teilt und nur dank Menschen wie Lena, die mir und anderen (stigmatisierten) Langzeitstillenden eine Plattform bieten, können veraltete und starre Denkmuster wieder in Bewegung gebracht werden. Und da kann und sollte ich bei mir selbst anfangen. Das tue ich hiermit:
Vor kurzem traf ich mich zum Abendessen mit meinen Kollegen, Psychologen und Psychotherapeuten. Fast alle von uns haben Kinder. Als ich um 20 Uhr sagte, dass ich mich auf den Weg machen möchte, um meine 13 Monate alte Tochter ins Bett zu bringen, wollte eine Kollegin mitkommen. Ich fragte sie, ob sie auch ein Einschlafstillkind zuhause habe. Sie antwortete: “Neeeein! Meine Tochter ist ja schon drei!”. Ich erwiderte, dass das alleine nichts heißen müsse und es auch in Deutschland immer mehr Kinder gebe, die mit drei noch gestillt werden. Darauf sagten fast alle Anwesenden, dass sie das übertrieben fänden.
Ich erklärte, dass es in den meisten Kulturen der Welt ganz normal sei. Daraufhin hörte ich Argumente wie “Naja, dort, wo es nichts Anderes zu essen, keine Flaschennahrung gibt, Frauen nicht arbeiten dürfen…”.
Ich ließ nicht locker und setzte die Unterhaltung damit fort, dass es mittlerweile sehr viele Untersuchungen und andere Literatur dazu gebe, wie gut das Langzeitstillen für die körperliche und seelische Gesundheit von Mutter und Kind sei. Zu hören bekam ich, dass es zu all diesen Dingen schon so viel zu lesen gäbe, wie in einem ganzen Studium und dass man damit gar nicht erst beginnen wollte. Man habe „auf das Bauchgefühl vertraut“. Es seien schließlich schon vor uns viele Generationen Kinder groß geworden, ohne dass die Eltern sich dazu belesen hätten.
Als ich sagte, dass auch ich darauf Wert lege, dass meine Tochter sich selbstbestimmt abstillt, herrschte betretenes Schweigen, bis ich den Eisbrecher brachte: “Ich suche jetzt schon nach Uni-Fächern, bei denen die Vorlesungspausen mit meiner Mittagspause übereinstimmen. So können wir uns noch in 20 Jahren täglich zum Stillen treffen.” Alle haben gelacht, nur mein Gesicht ist ernst geblieben.
Warum berichte ich das?
Das waren Psychotherapeuten, die Menschen helfen, die Auslöser psychischer Leiden und Dysfunktionen zu begreifen, um sie zu mildern oder zu beseitigen.
Ich dachte, dass sie schon wissen werden, was Stigmatisierung und Pathologisierung von eigentlich natürlichen Verhaltensweisen mit Betroffenen anrichten können. Ich dachte auch, dass meine Kollegen auf den entsprechenden Gebieten (zum Beispiel zur Bindungstheorie, der Bedeutung der Grundbedürfnisse und ihrer Befriedigung, der Selbstbestimmung usw.) bestens informiert seien. Ich dachte, dass sie als Gesprächspartner sich eher nicht der veralteten Klischees und Vorurteile bedienen würden.
Nun gut, ich wurde eines Besseren belehrt.
Aber das alles ist nicht das, was mir am meisten Sorgen bereitet! Die ganzen Standardsprüche kenne ich ja als überzeugte stillende Mutter, nicht zuletzt aus meinem Umfeld. Auch macht es mir nichts aus, andere Meinungen zu akzeptieren und zu respektieren.
Viel mehr bin ich traurig darüber, dass die vielen Informationen zum Stillen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Mutter-Kind-Bindung, nicht einmal bei den Menschen angekommen sind, bei denen ich dieses Wissen am ehesten erwartet hätte. Wie lange wird es dann wohl dauern, bis es in der breiten Bevölkerung angekommen ist!? Wie lange wird es dauern, bis (langzeit)stillende Mütter nicht mehr schief angeschaut und ausgelacht werden!?
Und noch ein wichtiger Gedanke macht mir zu schaffen:
Meine Kollegen sind Menschen, die jahrelang für ihr Studium keine Mühe gescheut haben, um der bevorstehenden Verantwortung gerecht werden zu können; Menschen, die mit aller Sorgfalt die Wirkungen und Nebenwirkungen ihrer Methoden abwägen, bevor sie ihre Patienten behandeln, weil sie sich ihres großen Einflusses auf deren Wohl bewusst sind und dieses stets im Auge behalten. Sie besuchen etliche Fortbildungen, um beruflich immer auf dem letzten Stand zu sein.
Dieselben Menschen erachten es nicht für nötig, sich zuerst umfassend zu informieren, bevor sie (sage und schreibe) über das Wohl ihrer Kinder entscheiden.
Wie kann das sein, dass jemand, der teils jahrelang für eine Prüfung büffelt und dem ihr Ausgang so wichtig zu sein scheint (Wer fleißige Studenten kennt, wird verstehen, was ich meine.), ausgerechnet bei den wichtigsten und härtesten Prüfungen des Lebens – die des Eltern Seins – vom „Mut zur Lücke“ lebt?
Damit möchte ich keineswegs meine Kollegen angreifen, sondern ein grundsätzliches Problem in unserer Gesellschaft verdeutlichen.
Hierzu ersetze man in meinem Beispiel den Beruf des Psychotherapeuten durch jeden anderen Beruf, jedes Hobby und eigentlich alles, was unsere Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft vereinnahmt. Vielleicht seid ihr auch schon Eltern begegnet, die Stunden damit verbringen können, die nächste Spielkonsole oder ein neues Fernsehgerät auszusuchen und dazu nach allen zugänglichen Informationen das Internet durchforsten. Die tollste Literatur dazu, was das gesundheitliche und psychische Wohl ihrer Kinder angeht, bleibt dagegen unberührt. Warum auch immer. Da reicht oft der „common sense“ der Babypflege und Kindererziehung, den man als gut gemeinte Ratschläge aus dem näheren Umkreis verpackt serviert bekommt. Das ist es, was mir ein großes Unbehagen bereitet!
“Was ist mit dem Bauchgefühl?” werden Einige fragen. Das Bauchgefühl ist wirklich sehr wichtig, finde ich. Aber auch dieses braucht eine Entscheidungsvorlage! Nur wer weiß, was Schwarz ist, weiß auch, warum er sich gerade für das Weiße entscheiden möchte,… oder für einen der Grautöne. Vorausgesetzt, er kennt diese und am besten noch viele andere Farben. Je differenzierter die Entscheidungsgrundlage ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der ausgewählte Handlungsplan ganz spezifisch und genau auf die eigene persönliche Situation, die Eigenschaften der Kinder, ihrer Eltern und ihre Lebensgeschichten passt.
Für mich bedeutet das in erster Linie sich selbst zu hinterfragen, zu öffnen und zu erkundigen, um die eigene, individuelle Entscheidung zu treffen und dann reinen Gewissens zu handeln. Deshalb sind eine vielseitige Informationsgrundlage sowie die volle Aufgeschlossenheit anderen, noch so verrückt erscheinenden, Perspektiven gegenüber, meiner Meinung nach, genauso entscheidend wie das Bauchgefühl.
“Alle Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste!” höre ich häufig. Sicher! Aber reicht das Wollen wirklich schon aus? Ich meine, nein! Ganz im Sinne der so wahren Worte von Sidney Harris: „Mutter Sein ist nicht nur eine Sache des Kinderkriegens. Das zu denken, ist genauso absurd wie zu glauben, dass man schon dadurch zum Pianisten wird, dass man ein Klavier besitzt. (“Being a mother isn’t simply a matter of having children. To think that is as absurd as believing that having a pianomakesone a musician.”)
Für mich gehört zur Kunst des Eltern Seins unter anderem dazu, zunächst die eigenen Gedanken zu formulieren und (vor-)urteilsfrei miteinander auszutauschen.
Nur wenn immer mehr Eltern diese Ziele verinnerlichen und die Gesundheit und das Glück der Kinder zu einem nicht minder wichtigen Anliegen machen wie zum Beispiel den beruflichen Werdegang oder die Auswahl des neuesten Gadgets, wird nicht nur unsere Gesellschaft immer kinderfreundlicher, sondern unter anderem ganz nebenbei auch das Leben der langzeitstillenden Mütter (und anderer Sonderlinge“ 😉 ) etwas leichter.
Geschrieben von Tatjana E., Psychologin und Mutter